Ich habe meinen Vater umgebracht. Die Idee kam im Suff. (Ich schwöre es.)
Schreiben als Funktion des Gedächtnisses: Ich schreibe, um Nina noch einmal zu erleben.
Seit meiner Einlieferung werde ich nicht müde zu gestehen. Ich gestehe den Ärzten, insbesondere Doktor Früger, den Pflegerinnen und Pflegern, insbesondere Schwester Leonie.
Seit der Nacht: Neonlicht, die Glastür, die Friedenstaube, die Treppen, Nina in der Dunkelheit.
Seit der Nacht gestehe ich, hartnäckig, verlange ein ordentliches Verfahren.
Was schreckt die Gerichte ab, sich für meinen Fall zu interessieren? Warum überlassen sie mich bereitwillig Doktor Früger?
Allein die Umstände meines Geständnisses: Nina, die vor mir zurückweicht, unbekleidet; allein die Umstände müßten für eine Strafverfolgung ausreichen.
Mein Geständnis: Alle zeigen sich interessiert, doch die Art, mit der sie darüber hinweggehen, befremdet mich, macht mich von Zeit zu Zeit mutlos.
Früger mit seinem weißen Kittel. Die Hornbrille, mit der er nicht spielt, während er redet: er nimmt sie nicht ab, zeigt nicht mit ihr auf imaginäre Punkte, betrachtet sie nicht nachdenklich oder putzt sie gar, um einer belanglosen Rede Bedeutung zu verleihen. Hat er mich begrüßt, versenkt er die Hände meist in den Taschen des weißen Kittels, nimmt sie nur heraus, sich gelegentlich zu kratzen.
Was erwartet man von mir? Was kann man mehr von mir verlangen, als daß ich geständig bin?
Nina trifft keine Schuld.
Einmal zu Früger: Die Justiz ist hochmütig geworden. Sie fühlt sich durch ein Geständnis beleidigt, empfindet es als Zweifel an ihrer Fähigkeit, einen Fall auch ohne die bereitwillige Mithilfe des Angeklagten zu klären. Nur in einem Indizienprozeß können Staatsanwalt und Verteidiger glänzen. Und die Richter? Sie fühlen sich durch ein Geständnis zur Nutzlosigkeit verdammt: ein Richter, der nichts zu richten hat.
Das Geständnis macht den Angeklagten zum Herrn des Prozesses, was ihm nicht verziehen wird; er wird ignoriert und dem überlassen, der ihn haben will, zum Beispiel Ihnen, Früger. Einen Leugnenden würde man Ihnen niemals so widerstandslos aushändigen. Sie sind de Müllschlucker der Justiz.
Ich erwarte keine große Verhandlung; ein, zwei Tage genügen. Ich bin bereit, die Urteilsbegründung selber zu verfassen.
Es kommt vor, da bilde ich mir ein, Früger habe nicht nur ein medizinisches, sondern ein menschliches Interesse an mir, aber es trifft wohl zu, daß diese Unterscheidung für ihn keine ist. Menschsein ist für ihn etwas Pathologisches an sich, der kranke Mensch eine Tautologie. Menschen handeln, um etwas zu erreichen, Handlung und Motiv sind im Wesen dasselbe. So Früger einmal.
Morgens fragt er mich regelmäßig, ob ich Zeitung gelesen hätte. Ich antworte immer gleich: Warum sollte ich
Bereits seit längerem verlange ich meine Abenteuergeschichten. Früger mag es lächerlich vorkommen, daß ich an zu Kinderzeiten Geschriebenem hänge. Die Ursachen haben ihn nichts anzugehen: ich bin nicht wegen meiner Marotten hier, sondern wegen meines Mordes. Im übrigen kann ich ihm die Geschichten durchaus empfehlen:
Ich erdachte Welten aus Ruinen und geheimen Gängen, in denen es mir besser gefiel als in der Wirklichkeit. Das müßte doch etwas für ihn sein: Bereits in der Kindheit angelegter Kampf zwischen Realität und eigener Scheinwelt, möglicherweise Untrennbarkeit beider, dadurch Realitätsverlust.
Früger einmal: Warum lesen Sie keine Zeitung? Es passiert viel in der Welt, Katastrophen, wobei ich nicht an die großen Unglücke denke, Flugzeugabstürze, Hotelbrände, wer sind die Opfer? Tote ohne Vergangenheit; gestorben wird überall.
Vergessen Sie die erste Seite der Zeitungen und blättern Sie weiter. Auch heute, Seite acht oder neun, hinter Blick-in-die-Welt und um Längen geschlagen vom Sport, eingepfercht in Lokales und auch dort erdrückt von einem übermächtigen Schützenfest, dort habe sich eine wahre Katastrophe ereignet: Ein Mann, extrem kurzsichtig, praktisch blind ohne Brille, habe im Gebirge gerade diese Brille verloren, möglicherweise durch eine ungeschickte Bewegung, was nicht mehr rekonstruierbar. Chancenlos habe er dem Rückweg durch das unwegsame, steile Gelände gegenübergestanden, drei Tage auf Hilfe gewartet, aber niemand habe ihn vermißt. Dann sei er ohne Brille los. Man fand ihn am Grund eines Felsabhanges, tot selbstverständlich.
Früger ist eine typische Zeiterscheinung: Ihn interessieren nur Dinge, die den Keim einer Katastrophe in sich tragen. Daß er mit der Art der Unglücke wählerisch ist, ändert nichts daran.
Ich habe ihn jetzt ultimativ aufgefordert, meine Geschichten zu besorgen.
Frügers Rhetorik: Er flickt immer wieder bestimmte Worte wie Leitmotive in seine Rede. Das psychologische Netzwerk, nach dem das geschieht, habe ich noch nicht auflösen können. So vergeht kein Gespräch, in dem er nicht das Gutachten erwähnt. In der von ihm aufgestellten Begründungshierarchie meines Hierseins nimmt das Gut- achten einen der obersten Plätze ein, soviel ist klar. Dennoch ringt er ihm die unterschiedlichsten Aspekte ab. Mal ist es Aufmunterung; es sei bald fertig. Das klingt wie: bald ist alles vorbei, bald haben wir es hinter uns. Wenn ich will, kann ich hoffen, daß es demnächst zum Prozeß kommt, aber das muß nicht so sein. Es liegt bei mir.
Manchmal macht das Gutachten Schwierigkeiten. Die Schuld dafür kann ich bei mir suchen; ich muß mich mehr anstrengen, als gelte es, eine Prüfung zu bestehen, ein Examen zu einem unbekannten Fachgebiet. Möglicherweise liegen die Schwierigkeiten aber auch bei ihm, er kommt nicht weiter, er appelliert an meine Kooperationsbereitschaft.
Manchmal jedoch verweist er lediglich auf die Existenz des Gutachtens, ohne Erläuterung. Er steht lange schweigend und murmelt dann wie laut gedacht: Das Gutachten..., und versinkt erneut in tiefes Schweigen. Hier erscheint das Gutachten als das Bewegende überhaupt; das Ding-An-Sich meines, seines, unseres gemeinsamen Seins. Es kommt vor, da halte ich es nicht aus. Ich stehe auf und brülle ihn an, daß ich gestanden habe.
- Wann bekomme ich endlich meine Geschichten. Ihre Geringschätzung rechtfertigt nicht Ihre Nachlässigkeit in dieser Hinsicht.
Er habe in der Sache telefoniert.
Die Unsicherheit, ob ich ihm glauben soll: Er ist Arzt; von Ärzten erfährt man die Wahrheit grundsätzlich nur auf Raten.
- Um was für Geschichten handelt es sich eigentlich? Ich wußte nicht, daß Sie schreiben.
- Schreiben, sagte ich, ist auf Dauer keine sinnvolle Beschäftigung für einen Physiker, weil sich die Präzision der Sprache nicht beliebig steigern läßt. Einfache Vorgänge können sie noch mit einem vertretbaren Aufwand an Sprache hinreichend exakt beschreiben, aber wenn die mitzuteilenden Sachverhalte einen gewissen Komplexitätsgrad überschreiten, stehen Aufwand und Effekt in keinem Verhältnis mehr. Das heißt, Literatur ist etwas für Leute, die Zeit zuviel haben.
Manchmal hat er Lust auf Diskussion.
Wenn schon Kunst, dann Literatur. Er sehe einen großen Vorteil darin, daß sich die Dichter des Wortes bedienten, was sie kritisierbar, widerlegbar mache, was man von anderen Künsten nicht gerade sagen könne, er jedenfalls sehe keine Möglichkeit, eine Statue oder eine Sinfonie zu widerlegen. Sicher, auch Sprache könne kryptisch sein, und wer entscheidet, was gut ist, und warum ist jemand gut? Hierarchie der Befähigung, ein als naturgesetzlich hingenommenes Begabungsgefälle, Abdruck des politischen Machtgefüges; wer den Kaiser hat, braucht auch den Dichterfürsten. Aber welcher Künstler zaubert aus der hohlen Hand? Künstlerverehrung ist, als lobe man die Schöpfkelle anstatt der Suppe.
- Gut? Schlecht? entgegnete ich. Es gibt Unterscheidungen, die für einen Physiker keine sind, weil die Differenz zwischen beiden Zuständen keiner objektiven Messung zugänglich ist. Das Fehlen des Meßwertes ist gleichbedeutend mit dem Fehlen der Sache.
Er sah mich an: Und trotzdem schreiben Sie?
Früger stand am Fenster, vergrub seine Hände tief in den
Taschen, dadurch entstanden zwei Ausbeulungen, groß
wie Tennisbälle.
- Wir brauchen genauere Informationen.
- Sie haben mein Geständnis.
- Ich glaube nicht, daß es Mord war.
- Was denn?
- Totschlag, Mord im Affekt. Ich bin kein Jurist.
- Spitzfindigkeiten.
Ich bin fest entschlossen, mich seinem Dialogkalkül zu widersetzen.
Vor drei Wochen die Erkenntnis: Ich bin ihm nicht gewachsen. Der Grund: Es ist mir noch nicht gelungen, sein System, sein psychologisches Netzwerk zu entschlüsseln. Ich bin Physiker. Als solchem ist mir bewußt, daß Zusammenhänge in dem Moment beherrschbar werden, da sie enträtselt sind; ich zweifelte nicht daran, daß mir dies gelingen würde, nur Zeit brauchte ich und einen Schutz für die Dauer meiner Suche. Jedes Gespräch erhöhte die Dringlichkeit, er wurde von Mal zu Mal aggressiver, glaubte sich seinem Ziel bereits nah, bis ich ihn eines Morgens mit meinem Zettelkasten überraschte.
Er improvisierte wie ein Musiker mit seinen Leitmotiven; das Gutachten erklang, ferner Mord und Nervenzusammenbruch. Er probierte verschiedene Kombinationen in der Hoffnung, endlich den Tristanakkord zu finden. Zu spät. Ich ging zum Tisch, wo seit gestern - Schwester Leonie hatte ihn mir nichtsahnend gebracht - ein alter Schuhkarton stand, angefüllt mit kleinen, aus Schreibmaschinenpapier geschnittenen Zettelchen. Ich notierte: Gutachten. Ich notierte: Mord. Ich notierte: Nervenzusammenbruch.
Was meine Zettel betrifft: Ich zweifele nicht daran, daß sie Früger ärgerten, aber er war zu stolz, einfach zu fragen, was ich da schriebe. Ich war Patient und er Chefarzt, als solcher hatte er mein Handeln ohne Erklärungen meinerseits zu verstehen.
Der zusätzliche Nutzen meiner Zettelchen: die Möglichkeit systematischer Forschungen. Auf ihrer Rückseite notierte ich den Dunstkreis, in dem das Motiv erklungen war. Nachts war ich oft stundenlang damit beschäftigt, die Blättchen auf dem Zimmerboden hin- und herzuschieben, ein schlüssiges Beziehungsgeflecht herzustellen, das Spinnennetz zu entwirren, das Früger für mich gespannt hatte. Ausgangs- und Mittelpunkt war stets das Gutachten, das ich mit verwandten Begriffen versuchte einzukreisen, wobei ich berücksichtigte, daß nur solche Worte im Kreis aneinandergrenzten, die ebenfalls oft in einem Atemzug genannt worden waren. Dieser erste Ring ging meist auf. Keine lästigen Querverbindungen störten die Symmetrie. Der Ansatz schien erfolgversprechend, doch regelmäßiges Scheitern beim zweiten Ring. Nie wollte er sich schließen, immer wieder Nahtstellen, an denen Begriffe, die sich wie zwei Gegenpole abstießen, nebeneinander zu liegen kamen.
Der Versuch, diese Widersprüchlichkeiten zu beseitigen: Ich sortierte um. Nächtelang. Umsonst. Immer zerbarst der Ring durch divergierende Kräfte, die manche Begriffe aufeinander ausübten.
Ich gebe nicht auf: Die Tatsache, daß ein Naturgesetz noch nicht gefunden ist, bedeutet nicht, daß es nicht existiert.
Frügers Machtlosigkeit angesichts meines Karteikastens:
er beginnt von Nebensächlichem zu reden.
- Haben Sie schon etwas veröffentlicht?
- Was?
- Geschriebenes. Romane.
-Ich schreibe nicht mehr.
Ich lasse mich nicht aus der Ruhe bringen und fülle meine Karten aus.
- Warum haben Sie aufgehört zu schreiben?
- Ich bin Physiker.
- Schreiben Sie als Physiker. Wider den Machbarkeitswahn!
- Die politische Wirkung von Kunst ist Kausalkonstrukt
einiger Gesellschaftsromantiker.
- Dann schreiben Sie wieder Abenteuer.
Mein Zettelkasten brachte ihn sichtbar aus dem Konzept.
Ich ließ mich nicht stören.
- Auf jeden Fall sollten Sie schreiben.
Dann ging er hinaus.
Kaum eine Stunde später klopft Schwester Leonie. Sie bringe eine Schreibmaschine.
Er will mich von meinen Zetteln ablenken, meine Konzentration auf sein System zerstreuen.
Schwester Leonie: der angehängte Name hat üblicherweise die Funktion, die verschiedenen Mitglieder des Pflegepersonals auseinanderzuhalten. Nummern würden es auch tun; reine Gewohnheit, Lebendiges durch Namen zu unterscheiden.
Dann der weiße Kittel; Berufsbekleidungseffekt, die Individualität verschwindet.
Immerhin geht es ihr nicht genau darum, für ein paar Stunden nicht Individuum, nicht verantwortlich sein zu müssen; das Soldatische fehlt ihr, was mich freut.
Es ging nicht soweit, daß ich sagen könnte, sie war nicht im Dienst. Sie war es. Sie verhielt sich in allen Situationen, wie es von einer Schwester zu erwarten ist, durch Praxis geschult.
Trotzdem einmal zu Früger: Sie tut niemals nur die Pflicht, die nichts ist.
Wir unterhielten uns allgemein. Detaillierteren Fragen wich sie geschickt aus, antwortete diffus, nichtssagend, weitergehende Informationen zu geben, lag nicht in ihrer Kompetenz. Es war eines meiner Hauptziele, ihr Verwertbares in bezug auf meine Lage zu entlocken, doch ähnlich meinem Kampf gegen Früger scheiterte ich auch hier regelmäßig.
- Hat Früger Ihnen gesagt, warum Sie mir eine Schreibmaschine bringen sollen?
- Er sagte nur, Sie könnten protestieren.
Sie setzte sich in den Sessel, wie sie es manchmal tat, wenn auf der Station alles ruhig war, um sich zu unterhalten, meistens sehr allgemein, doch wurde ich das Gefühl nicht los, daß es sie interessiert hätte, auch Persönliches zu erfahren.
Vorstöße, etwas aus ihr herauszubringen, leitete ich meist mit einem Hinweis auf mein Geständnis ein, doch lernte ich bald, daß auf diese Weise nichts zu erreichen war; Früger hatte sie zu gut vorbereitet. Bereits das erste Mal, als ich ihr gegenüber die Tatsache ein Mörder zu sein erwähnte, schien sie nach einem erlernten Verhaltensmuster zu reagieren, spielte die grausige Aussage auf raffinierte Art herunter, als handele es sich um ein Verkehrsdelikt.
Weise ich auf die Abscheulichkeit meiner Tat hin, so zuckt sie mit den Schultern, als werde es schon nicht so schlimm gewesen sein.
Hin und wieder nutze ich ihr Schweigen für Monologe, die mir hinterher unangenehm sind.
Wissen sie, was hier vorgeht? Früger betrachtet sich nicht als Arzt, sondern als Regisseur. Das ganze hier ist seine Bühne, wir sind seine Schauspieler: Er möchte meinen Mord inszenieren. Er hat eine Idee dieses Verbrechens im Kopf, ich habe noch nicht begriffen, welche, doch diese Idee, seine Version meiner Tat, möchte er unter allen Umständen durchsetzen. Ist er soweit, so soll das Stück vor Gericht Premiere haben. Richter, Staatsanwalt und Verteidiger sind für ihn nur Publikum, doch Zuschauer sind launisch, weshalb die Inszenierung so zwingend, atemberaubend sein muß, daß keine Fragen offen bleiben. Früger will keinen Flop.
Zur Zeit probt er, allerdings dürfen wir als seine Schauspieler im Unterschied zur herkömmlichen Bühne nicht wissen, daß wir Schauspieler sind, er kann keinen Text verteilen, den es zu lernen gilt, er kann vor Gericht nicht soufflieren. Um dennoch sein Stück zur Aufführung zu bringen, muß er unsere inneren Zustände derart manipulieren, daß wir selbst den von ihm gewünschten Text erfinden und sprechen; wir werden zu einem Sprachrohr, das schallt, ohne daß er hineinspricht.
Vielleicht halten Sie das alles für Hirngespinste, Nachwehen meines Nervenzusammenbruchs, aber ich sage Ihnen, das ist es nicht. Gerade Sie spielen eine wichtige Rolle in Frügers Stück. Geben Sie zu, daß er immer wieder mit Ihnen über mich spricht, daß er Ihnen mein Verhalten deutet, Reaktionen präjudiziert.
Das einzige, was anhand Astrologie erlernbar ist, ist die Arbeitsweise der Wahrsager; Dinge werden so vieldeutig und allgemein vorausgesagt, daß jede Zukunft auf das Orakel paßt, womit sich die Wahrsagerei als eigentliche Wurzel der Psychologie entpuppt, was bedeutet, daß Früger diese Methode in- und auswendig beherrscht, benutzt, meine Reaktionen vorherzusagen. Was hat er Ihnen eben gesagt? Wie hat er sich ausgedrückt? Er sagte, ich könne protestieren, also Widerstand leisten, wenn Sie so wollen. Und was tue ich gerade? Ich halte Sie auf, doziere über Früger. Er hat also scheinbar ins Schwarze getroffen. Scheinbar! Denn jede meiner Reaktionen stellt im Grunde Widerstand dar. Ist Krankheit selbst ihrem Wesen nach nicht Widerstand?
- Wenn Früger ein Schauspiel plant, so muß es auch Rollen geben. Welche Rolle ist denn für mich vorgesehen, Ihrer Meinung nach?
- Mitleid, sagte ich, Sie sollen Mitleid mit mir haben. Das ist Ihre Rolle.
- Ich habe kein Mitleid mit Ihnen.
- Was denn sonst?
- Sie sind ein Patient wie jeder andere auch. Der gestandene Mord ist Frügers Sache und geht mich nichts an. Woher also Mitleid?
- Ich sagte bereits: Früger probt noch mit uns. Wäre er fertig, hätten Sie Mitleid. Dann lädt er zur Uraufführung. Als Programm dazu verteilt er sein Gutachten.
Sie sah auf die Uhr und stand auf.
- Sie überschätzen Früger. Dann ging sie hinaus.
Schwester Leonie ist ein Glücksfall. Zu dieser Überzeugung komme ich immer mehr.
Früger will, daß ich schreibe, also schreibe ich. Den Text für sein Stück werde ich ihm nicht liefern.
Sie hat Mitleid, auch wenn es ihr nicht bewußt ist. Warum sonst sollte sie sich Zeit für mich nehmen?
Ich notierte in den folgenden Tagen wahllos Gedanken, Reflexionen, die mir durch den Kopf gingen; die meisten kreisten um meine Lage. Ich machte Anmerkungen zu Früger, zu Schwester Leonie, über das Zimmer. Einmal bemühte ich mich, den immer gleichen Tagesablauf detailgenau zu schildern, um Sachlichkeit zu trainieren. Sachlichkeit, die ich für die Dinge, die ich zu beschreiben beabsichtigte, für dringend geboten hielt, zumal die Notizen nicht für mich allein bestimmt waren.
Frügers Preis für die Schreibmaschine ist meine Geschichte, dort glaubt er fündig zu werden. Er irrt. Die Gründe für meinen Mord werden nicht in dem zu finden sein, was er von mir erhalten wird. Er erwartet ein Fressen für seinen psychologischen Interpretationshunger, aber er wird Unverdauliches erhalten.
Wo seine Regeln nicht anwendbar sind: An der sachlichen Schilderung einer Geschichte, an einem Bericht, einem Abbild geschehener Realität. Realität kann man nicht analysieren, sie ist. Einsteins Gleichungen entziehen sich psychologischer lnterpretationskunst.
Ich werde Früger einen Strich durch die Rechnung machen. Er wird bekommen, was er erwartet: Geschriebenes. Doch es wird ihn enttäuschen. Es wird ei ne Geschichte sein, die sich so oder ähnlich bereits millionenfach ereignet hat, eine Geschichte wie ein Naturgesetz.
Während der folgenden Tage ließ sich Früger nicht blicken.